Lang, lang ist es her, als der Deutsche, wenn er verreisen wollte,
erstmal zur Station ging. Dort kaufte er dann ein Billet.
Mit dem ging er auf den Perron. Dann stieg er ins Coupé,
wo ihn der Kondukteur erwartete.
Für spätere Ohren klang das altmodisch. Inzwischen ging man nämlich zum
Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte. Mit der ging
man dann auf den Bahnsteig, stieg ins Abteil und
ließ sich vom Schaffner kontrollieren.
Heute geht man - zumindest vorläufig - noch immer zum Bahnhof. Dort
findet man inzwischen aber so merkwürdige Dinge wie einen Service
point (früher Auskunft oder Information), einen McClean
(früher Abort, Toilette), eine Lounge (früher Wartesaal) oder
einen Ticket-Counter (früher war das ein
Fahrkarten-Schalter). Und wenn man dann auf dem Bahnsteig steht und auf
den Intercity-Express wartet, sieht man einen Güterzug
durchfahren, auf dessen Lokomotive groß das Wort Cargo steht.
Dieser Sprachwandel kam nicht von selbst, durch eine quasi
eigengesetzliche Entwicklung der deutschen Sprache. Er wurde ihr
vielmehr durch die Massenmedien, Institutionen, Großunternehmen und
sonstige Verfügungsgewalt über die Benennungen aufgezwungen. Ein Wort
wie Service point ist sogar ein Kunstprodukt, das zwar
englisch klingt, aber auf englischen oder amerikanischen Bahnhöfen
nirgendwo zu finden ist, weil dieselbe Sache dort Information
heißt.
Der Englisch-Wahn beschränkt sich nicht auf die Deutsche Bahn, die
dankenswerterweise vorläufig noch davon abgesehen hat, sich in German
Railways umzubenennen. Besonders symptomatisch ist er auch bei
einem anderen ehemaligen Staatsunternehmen, das sich heute Telekom
nennt und so seltsame Bezeichnungen wie den CityCall-Tarif
erfunden hat. Vermutlich ist aber bei diesen beiden ehemaligen
Staatsunternehmen der Englisch-Wahn nur deshalb so stark ausgeprägt,
weil sie der ganz normalen privaten Wirtschaft nacheifern, wo schon die
einzelnen Geschäftsabteilungen als business units oder divisions
bezeichnet werden.
Etliche in Deutschland ansässige Konzerne haben Englisch sogar zur Unternehmenssprache erhoben. Deutsch ist dann nur noch für die interne Verständigung zugelassen. Sobald einer mit am Tisch sitzt, der des Deutschen nicht mächtig ist, haben sich alle des Englischen zu bedienen, auch wenn neunzig Prozent der Anwesenden diese Sprache nur sehr unvollkommen beherrschen und sich deshalb gar nicht richtig verständigen können.
Die Überflutung der deutschen Sprache mit Anglizismen erfolgt so im Zangengriff aus Werbung, Medien und institutionellen Zwängen. Die normative Kraft des Faktischen formt und deformiert den Sprachgebrauch: Wer hundertmal den Begriff Computer hört, wird kaum noch das deutsche Pendant "Rechner" verwenden. Und wer nicht erstaunte Rückfragen riskieren will, wird gleich von E-Mail sprechen statt von "E-Post". So geht es mit vielen anderen Begriffen, etwa dem Jogging statt dem Dauerlauf oder dem Aerobic, das früher mal als Rhythmik bzw. Rhythmische Gymnastik bekannt war.
Die normative Kraft des Faktischen könnte aber genauso in umgekehrter Richtung wirksam werden, wenn nur genügend Druck dafür gemacht würde. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Verdeutschung vieler Fremdwörter, die Ende des 19. Jahrhunderts von Bahn und Post vorgenommen wurde. Das war ein reiner Verwaltungsakt, hinter dem nichts stand als die sprachliche Verfügungsgewalt über einen bestimmten Bereich, so wie uns heute die Massenmedien am laufenden Band irgendwelche denglischen Begriffe einbleuen. Ein Wort wie „Bahnsteig“ anstelle von Perron muß den Zeitgenossen damals so fremd vorgekommen sein, wie wenn heute der "Verein Deutsche Sprache" den Vorschlag macht, den Begriff „Startuhr“ anstelle von Countdown zu verwenden.
Die Überflutung mit Englisch hat zum Teil sachliche Gründe. Man braucht nur an den Computer-Bereich zu denken, wo so gut wie alle Begriffe englisch sind, weil die weltweite Verbreitung der Technik und Software von den USA ausging (daß der Computer eigentlich in Deutschland erfunden wurde, hilft da wenig). Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, alle diese Begriffe eindeutschen zu wollen. Man sollte aber zumindest dort, wo die Fachsprache in die Allgemeinsprache übergeht, nach deutschsprachigen Alternativen suchen (z.B. "Leitseite" statt "Homepage"). Und wenn es noch keine gibt, sollte man durchaus auch Neuschöpfungen wagen, wie dies die Franzosen mit "logiciel" für "software" getan haben.
Die eigentliche Kolonisierung findet indessen dort statt, wo ohne Not deutsche Wörter durch englische ersetzt werden, weil sie irgendwie modischer, schicker, imposanter klingen; wenn zum Beispiel aus dem Fahrrad ein "Bike" und aus dem Radfahrer ein "Biker" wird; oder wenn schlecht übersetztes Englisch wie "es macht Sinn" oder "in 2005" derart ins Deutsche eindringt, daß es schon keinem mehr auffällt. Es gilt auch schon als normal, wenn ein Geburtstagskind mit "Happy birthday to you" begrüßt oder am 31. Oktober "Halloween" gefeiert wird. Die Vermittlung solcher Sprach- und Denkmuster kommt über die Medien zustande, vor allem über das Kommerz-Fernsehen, das seine Trash-Programme (in diesem Fall paßt der Anglizismus) größtenteils mit Produkten aus den USA bestreitet. Es kam schon vor, daß solche unbedarften Fernsehgucker, wenn sie vor Gericht als Zeugen auftreten mußten, den Richter hartnäckig mit "Euer Ehren" anredeten...
Auch auf höherem Niveau werden wir ständig mit englischem und denglischem Imponiergehabe konfrontiert. Zum Beispiel ärgere ich mich als Abonnent der „Süddeutschen Zeitung“ jede Woche über eine Beilage, die eine Auswahl von Artikeln aus der „New York Times“ enthält – „selected for Süddeutsche Zeitung“, wie es im Untertitel heißt. Eigentlich habe ich eine deutsche Zeitung abonniert und gehe davon aus, daß die mich umfassend informiert. Weshalb bekomme ich dann plötzlich einen Teil der Zeitung auf englisch?
Es handelt sich hier wirklich um Imponiergehabe, denn die „New York Times“ wird uns hier als eine Art heiliger Gral der Publizistik präsentiert, was sie gar nicht ist. Das ist nur ein alter Mythos aus den Zeiten blinder USA-Verehrung. Zunächst mal ist es so, daß sich gerade in den USA die Publizistik auf einem äußerst erbärmlichen Niveau befindet. Gegenüber dem, was der Amerikaner normalerweise seinen Zeitungen oder anderen Medien entnehmen kann, sind unsere Lokal- und Regionalzeitungen regelrechte Weltblätter.
Zum anderen gibt es aber natürlich auch in den USA ein paar lesbare, durchaus informative Zeitungen. Dazu gehören die „Washington Post“, die „Los Angeles Times“ oder eben auch die „New York Times“. Es sind aber Ausnahmen in einer publizistischen Wüste, und es gibt überhaupt keine Veranlassung, sie zu glorifizieren. Zum Beispiel hat auch die „New York Times“ kritiklos die leicht durchschaubaren Falschinformationen übernommen und verbreitet, mit denen die Bush-Regierung ihren Krieg gegen den Irak propagandistisch begründete.
Eine weitere Zeitung, die ich abonniert habe, ist die "Frankfurter Allgemeine" (FAZ). Die Feuilleton-Redaktion dieses Blattes überraschte eines Tages mit der Nachricht, daß sie einem neuen Internet-Forum zur Literatur, in dem ausschließlich auf deutsch kommuniziert wird, die Bezeichnung "Reading Room" verliehen habe. Von der "Frankfurter Allgemeinen" hätte man so etwas zuallerletzt erwartet. Hinsichtlich der politischen Richtung der Zeitung mochte man ja immer unterschiedlicher Meinung sein. Aber in punkto Sprachgefühl hätte man ihr noch am ehesten zugetraut, dem Kauderwelsch der Anglizismen zu widerstehen. – So wie sie noch immer die Fahne der alten Rechtschreibung hochhielt, nachdem die "Süddeutsche" und der "Spiegel" bereits kapituliert hatten. Und nun das: Am grünen Holz der FAZ wucherte ein besonders häßlicher denglischer Schimmelpilz namens "Reading Room".
Was war da nur in die Feuilleton-Redaktion der FAZ gefahren? War das nur mal wieder eine jener Effekthaschereien, mit der Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher die Liste seiner Großtaten, die er vor acht Jahren mit dem endlos langweiligen Abdruck des menschlichen DNS-Codes auf mehreren Zeitungssseiten eröffnete, fortzusetzen gedachte? Oder handelte es sich gar um eine Totalkapitulation, nachdem der Widerstand gegen den Krampf der neuen Rechtschreibung dem verlegerischen Kalkül zum Opfer gefallen war?
Ignoramus et ignorabimus! – Wir wissen nur, daß nach ein paar Wochen die FAZ sich plötzlich eines besseren besann. Man darf aber vermuten, daß die Redaktion den Unmut der Leser wegen des "Reading Room" nicht länger ignorieren konnte. Jedenfalls wurde in dem besagten "Reading Room" nun ganz offiziell eine Diskussion darüber eröffnet, ob der Name der Sache angemessen sei. Und siehe da: Die "Contra"-Spalte schäumte über vor Leser-Protesten, während die "Pro"-Spalte in jeder Hinsicht ein magersüchtiges Dasein fristete. An der Spitze des "Pro"-Lagers stand auch nicht Herr Schirrmacher, sondern ein relativ unbekannter FAZ-Feuilletonist namens Ebbinghaus, dem zur Verteidigung des "Reading Room" nichts besseres einfiel, als daß "Feuilleton" schließlich doch auch ein Fremdwort sei...
An der Diskussion, ob man dieses Internet-Forum als "Reading Room" bezeichnen dürfe, beteiligte ich mich als FAZ-Abonnent mit dem folgenden Beitrag:
Dürfen darf man schon. Man darf es auch niemandem verbieten, sein Kind „Kevin“ zu nennen. Aber genauso ist es erlaubt, daraus Rückschlüsse auf den geistigen Habitus des Namensgebers zu ziehen. Die FAZ galt bisher eigentlich nicht als Blatt der intellektuellen Unterschichten, die ihre Blößen gerne mit angloamerikanischem Imponiergefasel bedecken. Daß nun ausgerechnet sie ein deutschsprachiges Forum, das auch noch vorwiegend der deutschen Sprache bzw. Literatur gewidmet ist, als „Reading Room“ bezeichnet, mutet wie ein schlechter Witz an. Das paßt wie die Faust aufs Auge. Der Einwand mit dem „Feuilleton“ trägt nicht. Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Der schiefe Vergleich verrät auch Unkenntnis des pressegeschichtlichen Hintergrunds, vor dem es im 19. Jahrhundert zur Nachahmung des französischen Feuilletons in der deutschen Presse und Übernahme des Wortes kam. Daß diese unsägliche Namensgebung endlich thematisiert wird, lässt immerhin hoffen.
Eine Woche später kapitulierte die FAZ vor den Protesten ihrer Leser und benannte den "Reading Room" in "Lesesaal" um. Die normative Kraft des Faktischen hatte in diesem Fall in erfreulicher Weise gewirkt.
Demselben Imponiergehabe begegnen wir im Wissenschaftsbetrieb, in dem sowieso mit viel heißer Luft gehandelt wird. Zum Beispiel geriet mir eine psychotherapeutische Fachzeitschrift in die Hände, deren Titelthema „Klinisches Case-Management“ lautete. Ich will mich jetzt nicht über den Nutzen dieser Behandlungsmethode auslassen, sondern nur an diesem Beispiel darlegen, wie wieder mal in den USA angeblich der Stein der Weisen gefunden wurde, um dann als „philosopher’s stone“ in die deutsche Fachliteratur einzugehen. Denn die beiden Autoren, die hier dieses „Case Management“ vorstellten, waren nicht imstande oder trauten sich nicht, die Schlüsselbegriffe dieses „Case Managements“ – es fängt ja schon mit dem Titel an – ins Deutsche zu übersetzen. So entstand dann ein vordergründig deutschsprachiger Artikel, dessen gedankliche Substanz aber, soweit vorhanden, englisch war. Zum Beispiel beschrieben die Autoren verschiedene Funktionen dieses Case Managements unter durchweg englischen Begriffen wie: Screening – Assessment – Planning – Linking/Plan Implementation – Monitoring – Reassessment/Evaluation – Advocacy. Genauso wurden die verschiedenen Modelle dieses Case Managements untergliedert in „Advocacy-Modell“, „Broker-Modell“, „Service-Management-Modell“ oder „Managed Care-Modell“.
Dieses englisch-denglische Wortgeklapper ist heute auf fast allen Gebieten anzutreffen. Nehmen wir nur den Jargon der Wirtschaft, in dem ständig die Rede ist von Implementierung, Allokation, Monitoring, Auditierung oder Benchmarking. Da ist von Best-Practice-Regelungen die Rede, von Task Forces, von Tools, Key-Documents, Investor Relations, Performance, Charts – es ist ein einziger Schrecken ohne Ende.
Die deutsche Sprache erleidet so eine schleichende Pidginisierung. Es ergeht ihr ganz ähnlich wie Dialekten, die den Kontakt zur Hochsprache verlieren. Wohin das führt, kann man im Elsaß studieren, wo ein Teil der Bevölkerung noch im alemannischen Dialekt verwurzelt ist, diesen aber nur noch rudimentär verwenden kann, weil dem "Alsacien" die Verbindung zur Hochsprache abgerissen ist. Der Dialektsprecher muß deshalb ins Französische wechseln, sobald es um kompliziertere Dinge und Sachverhalte geht. (Unseren Germanisten ergeht es übrigens schon ganz ähnlich, denn sie bezeichnen den hier geschilderten Vorgang als "Code-Switching".)
Das erstaunlich vitale Gegenstück zum "Alsacien" ist der alemannische Dialekt der Deutschschweizer. Er befindet sich innerhalb der Schweiz keineswegs auf dem Rückzug, sondern im Vormarsch. Er gilt dort auch nicht als Unterschichten-Merkmal, sondern als Ausweis gehobener Bürgerlichkeit. Im Gemeinschaftsprogramm des deutschsprachigen Fernsehens auf "3 Sat" werden deshalb Beiträge aus der Schweiz oft mit Untertiteln versehen, denn Schwyzerdütsch klingt für die Ohren von Norddeutschen nun mal fast wie eine Fremdsprache. In Schriftform wäre das Gesagte jedoch - von kleineren Eigenheiten abgesehen - identisch mit der deutschen Hochsprache. Die Verbindung ist hier also durchaus vorhanden, wie auch jeder weiß, der die "Neue Zürcher Zeitung" aufschlägt oder einen Text von Max Frisch liest.
Ein vielleicht noch besseres Beispiel für die Notwendigkeit sprachlicher Selbstbehauptung sind die baltischen Staaten, die man aus westeuropäischer Sicht längst als russische Provinzen abgeschrieben hatte, bevor sie sich beim Zusammenbruch der Sowjetunion wie Phönix aus der Asche zu neuer Staatlichkeit aufschwangen. Dabei sind die Esten, Letten und Litauer lediglich Mini-Nationen, die weniger Staatsbürger zählen als die meisten unserer Bundesländer. Daß sie der massiven Russifizierung dennoch widerstehen konnten, verdanken sie vor allem der Bewahrung ihrer eigenen Sprachen.
Deutschland als wichtigstes Land der EU hätte somit eigentlich ganz gute Chancen, der Amerikanisierung zu widerstehen. Sie wurden aber bisher vertan, indem deutsche Politiker, Geschäftsleute und Wissenschaftler einen besonderen Ehrgeiz entwickelten, bei allen möglichen Gelegenheiten englisch statt deutsch zu reden. Man braucht nur die Verlautbarungen der EU-Kommission in Brüssel durchzusehen, um schnell festzustellen, daß Deutsch neben Englisch und Französisch von nachrangiger Bedeutung ist. Warum muß ich wochenlang warten, bis ich im Internet ein Dokument des Rats, der Kommission oder des Parlaments auch in deutscher Fassung vorfinde?
So etwas ärgert mich nicht als deutschtümelnder "Patriot", sondern schlicht als Angehöriger der deutschen Sprachgemeinschaft (die auch noch die Österreicher, den größten Teil der Schweiz und etliche andere Menschen außerhalb der Grenzen Deutschlands umfaßt). Man ist nun mal in dieser Sprache aufgewachsen und wird beim besten Willen andere Sprachen nie in derselben Weise beherrschen. Es ist nicht Patriotismus, sondern purer Selbsterhaltungstrieb, wenn ich die mir vertraute kulturell-geistige Infrastruktur nicht von Ignoranten zerstört sehen möchte, die zwar einflußreiche Positionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Werbung erklommen haben mögen, aber sonst doch ziemliche Banausen sind und von der Bedeutung der Sprache soviel Ahnung haben wie eine Kuh vom Klavierspielen.
Das gilt leider auch und gerade für Institutionen, die sich angeblich der Pflege der deutschen Sprache widmen, wie das "Institut für deutsche Sprache" in Mannheim oder die "Gesellschaft für deutsche Sprache" in Wiesbaden. Sie sind so betriebsblind wie die Germanisten, die ihr begriffliches Instrumentarium aus dem angloamerikanischen Raum beziehen, ohne darüber zu reflektieren, daß sie bereits selber vom "Code-Switching" befallen sind. Sie sehen die Sprache gewissermaßen aus der Perspektive von Buchhaltern und Erbsenzählern. Dazu gehört, daß man schon mal die Beliebtheit von Vornamen auszählt oder ziemlich willkürlich ein "Wort des Jahres" kreiert. Die Überflutung der deutschen Sprache mit Anglizismen wird aber nur beobachtend-registrierend zur Kenntnis genommen oder sogar verharmlost.
Die Kehrseite dieser vermeintlich wissenschaftlich-neutralen Haltung ist dann der bürokratische Amoklauf, wie er sich in der sogenannten Rechtschreibreform offenbart hat: Es trug geradezu possenhafte Züge, wie hier bürokratische Gremien und betriebsblinde Sprachwissenschaftler - von der Kultusministerkonferenz bis zum "Institut für deutsche Sprache" - eine Sache lostraten, deren Konsequenzen sie überhaupt nicht überblickten. Am Ende mußte man die "Reform" etappenweise zurücknehmen. Geblieben ist aber eine beispiellose Konfusion hinsichtlich der deutschen Rechtschreibung.
Es gehört zum Understatement des in Deutschland verbreiteten Englisch-Wahns, die schlichte Tatsache zu ignorieren, daß kaum jemand wirklich zweisprachig aufwächst, also eine Sprache so gut beherrscht wie die andere. Sowohl Geschäftsleute als auch Wissenschaftler und Politiker tun aber so, als könnten sie sich mühelos in Englisch ausdrücken. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger verstieg sich sogar zu der Äußerung, Englisch müsse in Deutschland zur "Arbeitssprache" werden. Aus der Sicht eines Kulturbanausen ist es in der Tat ziemlich gleichgültig, ob er auf deutsch oder auf englisch radebrecht. Für das, was er mitzuteilen hat, reicht BSE (Bad Simple English) allemal.
We speak railways lautete mal ein Werbespruch, der in großen Lettern an der Giebelseite der Frankfurter Bahnhofshalle prangte. Der deutsche Bahntechnik-Konzern Adtranz hielt das vermutlich für eine überaus gelungene Parole, um seine Weltläufigkeit zu unterstreichen. In Wirklichkeit glossierte er damit seine eigene Verfassung, die ungefähr der auf der Baustelle des Turms von Babel entsprach, nachdem dort die Sprachverwirrung begonnen hatte. Adtranz wurde zum Inbegriff technischer Pannen und Mißwirtschaft. Und vermutlich wird es noch etlichen anderen deutschen Unternehmen so ergehen, die sich dem Englisch-Wahn verschrieben haben.
Natürlich gibt es einleuchtende Begründungen, weshalb die englische Sprache nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern auf dem Vormarsch ist. Die allgemeinste ist die weltweite Vorherrschaft der englisch sprechenden USA in politischer, wirtschaftlicher, kultureller und technischer Hinsicht. Diesem alle Bereiche umfassenden Zangengriff kann sich kein Land entziehen. Es spricht auch einiges dafür, das ohnehin schon weit verbreitete und relativ einfache Englisch zur neuen "lingua franca" zu erheben, so wie früher Latein die internationale Sprache der Wissenschaft war oder Französisch auch außerhalb Frankreichs von den gebildeten Kreisen gesprochen wurde.
Der deutsche Englisch-Wahn schießt aber weit über solche Zugeständnisse hinaus, die der internationalen Verflechtung und dem Kleinerwerden der Welt geschuldet sind. Sprachliche Erfindungen wie der Service point oder das Handy bezeugen einen geradezu wollüstigen Umgang mit der englischen Sprache, der vor keiner Perversion zurückschreckt. Die Triebtäter bemerken dabei oft nicht einmal, welche Gewalt sie der englischen Sprache antun, wenn sie beispielsweise einen Rucksack als body bag bezeichnen, obwohl rucksack die passende englische Bezeichnung wäre und das pseudo-englische Ersatzwort allenfalls im Sinne von "Leichensack" gebräuchlich ist.
Nur in Deutschland ist es möglich, daß ein Großteil der Werbung auf englisch daherkommt, obwohl die Reklamesprüche vom Großteil der Bevölkerung nicht oder nicht richtig verstanden werden. Offensichtlich spielt das gar keine Rolle. Die englischen Sprüche sind Selbstzweck. Es genügt, wenn sie als Englisch erkannt und vielleicht bruchstücksweise verstanden werden. In erster Linie geht es um Imponiergefasel, um das Versprechen der Teilhabe an einer anderen, glamourösen Welt, die nichts mit dem banalen Alltag zu tun hat.
Unwillkürlich fragt man sich, welche Fremdsprache wohl die Engländer oder US-Amerikaner verwenden mögen, um denselben psychologischen Effekt bei sich zu erzeugen. Man wird indessen schnell feststellen, daß sie nicht willens oder in der Lage sind, solche sprachlichen Glanz-Effekte zu produzieren. Für den Angehörigen der angelsächsischen Sprachgemeinschaft existiert keine Parallel-Welt, in der alles nur deshalb viel glanzvoller und imposanter ist, weil ihre Inhalte mit Ausdrücken aus einer anderen Sprache belegt werden. Ein bike bleibt für ihn ein Fahrrad, ob es nun neuester Produktion entstammt oder hundert Jahre alt ist. Nur der Deutsche ist in der Lage, dem Bike einen anderen psychologischen Inhalt als dem altvertrauten Fahrrad abzugewinnen: Das eine Gefährt entstammt dem neuesten Hochglanzprospekt der Fahrradindustrie, das andere steht in der Rumpelkammer.
Man wird ferner feststellen, daß dieser Imponier-Effekt des Englischen nur bei den Deutschen so ausgeprägt ist. Zwar dringen englische Wörter infolge der bereits erwähnten Hegemonie der USA auch bei anderen Nationen in deren Sprache sein. Aber bei weitem nicht so stark. Jedenfalls werben dieselben Unternehmen, die in Deutschland auf englisches Imponiergefasel setzen, in anderen Ländern in der dortigen Landessprache.
Es scheint also am Nationalcharakter zu liegen, daß englische Wörter und Satzfetzen in Deutschland so begierig aufgenommen und sogar erfunden werden, als handele es sich um die Verheißung einer besseren Welt. Es scheint, als litten die Deutschen unter einem spezifischen Defekt, der sie ihre eigene Sprache verachten und als antiquiert empfinden läßt.
Es mag ein bißchen kühn anmuten, von einem solchen Nationalcharakter überhaupt zu reden. Schließlich wurde das, was heute als Deutschland bezeichnet wird, erst 1990 zu einer politischen Einheit zusammengefügt. Blickt man weiter zurück, dann bestand die politisch-kulturelle Einheit des heutigen Gebildes auch nur von 1871 bis 1945.
Vielleicht bietet aber gerade diese kurze, verspätete Geschichte des deutschen Nationalstaates, der sich heute bereits wieder im größeren Rahmen der Europäischen Union aufzulösen beginnt, eine Erklärung für das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Sprache. Es fängt damit an, daß die Verheißung einer sich mit der Sprachgemeinschaft weitgehend deckenden nationalen Einheit – "von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" – nie eingelöst wurde.
Als Hoffmann von Fallersleben diesen Text dichtete, der später zur Nationalhymne erkoren wurde, war das eine Kampfansage an Kleinstaaterei und Fürstenherrschaft auf der Grundlage des gewachsenen Nationalgefühls, dessen wichtigste Klammer wiederum die gemeinsame Sprache war. Die erwähnten vier Flüsse beschrieben ungefähr die Ausdehnung des damaligen deutschen Sprachgebiets nach allen vier Himmelsrichtungen. Man wird ihm nicht unterstellen dürfen, daß er im Westen mit der Maas auch die Niederländer meinte, die sich bereits im Spätmittelalter aus dem Heiligen Römischen Reich verabschiedet und ihren deutschen Dialekt zu einer eigenen Hochsprache weiterentwickelt hatten. Ebensowenig meinte er im Süden mit der Etsch die Deutschschweizer, die ebenfalls sehr früh aus dem Reich ausgeschieden, aber der deutschen Hochsprache verbunden geblieben waren.
Dagegen umfaßte Hoffmann von Fallerslebens Vision eines geeinten Deutschland durchaus noch Österreich und Luxemburg, denn die historischen Verwicklungen, die zur Ausgrenzung dieser beiden Länder bei der nationalen Einigung führten, waren damals noch nicht vorhersehbar. Österreich durfte dann immerhin noch die Melodie zur deutschen Nationalhymne beisteuern, die Joseph Haydn ursprünglich als Hymne auf das österreichische Herrscherhaus komponiert hatte ("Gott erhalte Franz, den Kaiser...")
Im kleindeutschen Nationalstaat, der 1871 unter preußischer Vormundschaft zustande kam, wohnte die große Mehrheit der Deutschsprechenden. Er war deshalb auch das Zentrum der deutschen Sprachgemeinschaft, obwohl diese nicht mit ihm identisch war und vor allem im Süden erheblich mehr Menschen umfaßte. Auf die deutsche Sprache und deren Akzeptanz im In- und Ausland wirkte sich dieser Nationalstaat zunächst sehr günstig aus. Zum einen bewirkte sein Aufstieg zur wirtschaftlich stärksten und auch kulturell einflußreichen Macht des Kontinents eine entsprechene Verbreitung und Wertschätzung der deutschen Sprache. Zum anderen ließen sich staatliche Instanzen die Pflege und Vereinheitlichung der deutschen Sprache angelegen sein. Das "Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache", das damals der Gymnasialdirektor Konrad Duden erarbeitete, war nie von Staats wegen verbindlich, errang aber inoffiziell für die Rechtschreibung einen solchen Status. Die staatlichen Verwaltungen von Post und Eisenbahn tilgten in ihren Bereichen eine Vielzahl von Fremdwörtern und ersetzten sie durch deutschsprachige Neubildungen, die wie das Wort "Bahnhof" bald ins allgemeine Bewußtsein übergingen.
Ersetzt und erfolgreich verdrängt wurden damals fast nur französische oder französisch klingende Wörter. Es ist ganz hilfreich, sich die ehemalige Überfrachtung der deutschen Sprache mit aus Frankreich importierten Modewörtern vor Augen zu führen, da sie wie das heutige Werbetexter-Englisch viel mit Imponiergehabe zu tun hatte. Der Gebrauch französischer Wörter gehörte zum Ausweis gehobener Bürgerlichkeit wie die Chaiselongue im Salon. Wer seine Zugehörigkeit oder zumindest Vertrautheit mit den höhern Ständen demonstrieren wollte, bat um Pardon statt um Verzeihung, so wie sich heute der weltmännisch auftretende Deutsche mit einem flapsigen sorry entschuldigt.
Das Deutsch-Französisch des 19. Jahrhunderts enthielt ebenfalls schon eigenartige Konstruktionen nach Art des heutigen Denglisch, die ein Franzose nicht verstanden oder zumindest nicht verwendet hätte. Zum Beispiel hatte und hat Perron im Französischen nicht die Bedeutung von Bahnsteig. Es steht viemehr für eine Freitreppe oder einen ähnlichen Vorbau, mit einem leichten Beigeschmack von Bühne. Als Einstiegshilfe in den Zug gab es den Perron höchstens im deutsch besetzten Elsaß-Lothringen. Die Franzosen benutzten für diesen Zweck den Quai. Sie stiegen dann auch nicht ins Coupé, sondern ins Compartiment.
Und so gab es noch eine ganze Reihe anderer Wörter, über die sich ein Franzose nur wundern konnte, obwohl sie aus seiner Sprache abgeleitet waren. Zum Beispiel Souterrain für Kellergeschoß, Parterre für Erdgeschoß und Beletage für das erste Obergeschoß. Derartige Ausdrücke waren zwar in Berlin jedermann geläufig, wären aber in Paris mit sous-sol, rez-de-chaussée und premier étage übersetzt worden. Dasselbe gilt für damals und noch heute weit verbreitete Wörter wie Friseur (coiffeur), Kuvert (enveloppe) oder poussieren (faire la cour).
Gute Gründe also, mit diesem Berlin-Französisch und anderen Französismen aufzuräumen, zumal sie meistens auch noch in einer grauenhaften, jeden Freund des Französischen zutiefst schmerzenden Weise ausgesprochen wurden (Sutterräng, Sallong, Schässlong usw.).
Sicher gab es übereifrige Sprachreiniger wie Eduard Engel, die die deutsche Sprache durch jedwede "welsche" Einsprengsel geschändet sahen und ihr zu einer Reinheit verhelfen wollten, die eher auf Sterilität hinauslief. Ihr Wüten gegen "Fremwörtelei" und "Welscherei" hatte mit einem übersteigerten Nationalgefühl zu tun. Zugleich war ihr Purismus aber so idealistisch-verstiegen, daß er dem herrschenden Chauvinismus keine praktischen Vorspanndienste zu leisten vermochte, sondern eher als hinderlich empfunden wurde. Dieselbe Erfahrung machten eingefleischte Puristen später mit den nationalsozialistischen Machthabern, die zwar demonstrativ ein Wort wie "Redakteur" durch "Schriftleiter" ersetzten, im übrigen aber ein rein instrumentelles Verhältnis zur deutschen Sprache pflegten und jeder Sprachkorrektur abhold waren, die nicht ihren unmittelbaren propagandistischen Bedürfnissen entsprach. Die Sprach-Puristen blieben deshalb immer Außenseiter, ihre Resonanz auf kleine Zirkel beschränkt.
Die unselige Verquickung des neuen deutschen Nationalstaats mit Chauvinismus, Militarismus und imperialem Machtstreben wurde der deutschen Sprache auf andere Weise zum Verhängnis, nämlich durch den damit verbundenen Gang der Geschichte, der diesen Nationalstaat in zwei Weltkriege gestürzt hat. Zwar hatten es die Deutschen nun endlich geschafft, sich wie die Engländer oder Franzosen als Nation zu konstituieren. Im Unterschied zu den beiden anderen großen europäischen Nationen war aber die Emanzipation des Bürgertums gegenüber den alten feudalen Gewalten auf halbem Weg stehen geblieben. Im Vergleich mit dem demokratisch-republikanischen Großdeutschland, wie es Hoffmann von Fallersleben und anderen Achtundvierzigern vorgeschwebt hatte, war das kleindeutsche Bismarck-Reich eine herbe Enttäuschung. Es wurde geprägt von Militarismus, Obrigkeitsdenken, junkerlichem Standesdünkel und besitzbürgerlichem Egoismus.
Der schnelle Sieg über Frankreich, der an der Wiege des neuen Reiches stand und auch die süddeutschen Staaten mit ihrem liberaleren Klima unter die preußische Vorherrschaft gezwungen hatte, begünstigte in den folgenden Jahrzehnten einen aggressiven Machtanspruch auf Vorherrschaft in Europa, der sich vor allem gegen den "Erbfeind" Frankreich und das "perfide Albion" richtete. Diese beiden Mächte sahen sich ihrerseits in der angestammten Vorherrschaft durch den deutschen Emporkömmling bedroht. "Imperialismus" war damals noch kein diskreditiertes Wort, sondern die allgemein anerkannte Maxime der Außenpolitik. So kam es dann zur Katastrophe des ersten Weltkriegs, an dem Deutschland sicher nicht allein schuld war, zu dem es aber durch die politische Antiquiertheit seiner Art von Nationalstaatlichkeit entscheidend beigetragen hatte.
Die Niederlage und die Not im Gefolge des ersten Weltkriegs waren nur der erste Schock, den die eben erst gewonnene nationale Identität erlitt. Dem Trauma der "Schmach von Versailles" entstieg wenige Jahre später die Hybris der Nazi-Ideologie, die Deutschland und alles Deutsche zur Weltherrschaft zu führen versprach. Umso gründlicher lag 1945 alles in Schutt und Trümmern, was bis dahin das individuelle und nationale Selbstwertgefühl ausgemacht hatte.
Ausdruck dieser tiefgreifenden Verstörung war gerade die Emphase, mit der nun alles beschworen wurde, was politisch nicht diskreditiert schien. "Wir sind keine Menschenfresser", hieß es beispielsweise Ende der vierziger Jahre in dem Schlager "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien". Die drei westlichen Besatzer wurden aufgefordert, nicht nur die Verbrechen des Nazi-Regimes, sondern auch die unvergänglichen Höhepunkte deutscher Kultur zu sehen:
Doch fremder Mann, damit Du's weißt,
ein Trizonese hat Humor,
er hat Kultur, er hat auch Geist,
da macht ihm keiner etwas vor.
Selbst Goethe stammt aus Trizonesien,
Beethovens Wiege ist bekannt.
Nein, sowas gibt es nicht in Chinesien,
darum sind wir stolz auf unser Land.
(Refrain:)
Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,
Heidi, tschiwwla, tschiwwla, tschiwwla, tschiwwla, bum....
Die krampfhafte Beschwörung Goethes, Beethovens und anderer erlauchter Geister änderte nichts daran, daß das nationale Selbstwertgefühl der Deutschen bis ins Mark getroffen war. Das unterschied sie von anderen Nationen – übrigens auch von der deutschsprachigen Bevölkerung der Schweiz – und machte sie in der Folgezeit besonders anfällig für die Amerikanisierung, die nun mehr oder weniger alle europäischen Länder zu erfassen begann.
Denn mit England und dem dort gesprochenen Englisch hat die heutige Dominanz des Englischen nur wenig zu tun. Anders als im 19. und auch noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als England eine vielbewunderte Großmacht mit spezifischem gesellschaftlichem Gepräge und starker kultureller Ausstrahlung war, gehen von der britischen Insel längst keine größeren Anstöße mehr aus. Im europäischen Rahmen überwiegt ohnehin die Zahl der Menschen mit Deutsch als Muttersprache.
Die Dominanz des Englischen ist vielmehr eine Dominanz des Amerikanischen. Sie ist eine Begleiterscheinung der "Amerikanisierung" aller Lebensbereiche, die Anfang des 20. Jahrhunderts auch das Eindringen englischer Wörter in die deutsche Sprache zu bestimmen begann. Bis dahin hatten französische Beimengungen im Deutschen dominiert. Sie gehörten zur Sprache des Besitz- und Bildungsbürgertums, besonders zu der des halbgebildeten Parvenü. Erst auf dem zweiten Platz rangierten englische, zum Teil bald eingedeutschte Ausdrücke wie Reporter, Interview, Trainer, Rekord, Favorit oder Handikap, die vor allem dem Bereich des Sports entstammten. Nach dem ersten Weltkrieg - und durchaus in ursächlichem Zusammenhang damit - holte Englisch aber stark auf. Schon in den zwanziger Jahren galt nicht etwa London, sondern Berlin als die "amerikanischste" aller europäischen Hauptstädte. Mit englischen Ausdrücken gespickt war vor allem die Sprache des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts, während Französisches sich in Reservaten wie der Mode, der Galanterie oder des Feinschmeckertums behaupten konnte.
Diese schon damals konstatierte und vielfach beklagte "Amerikanisierung" wurde nicht in erster Linie als Bedrohung der deutschen Sprache, sondern als Bedrohung der deutschen Kultur schlechthin wahrgenommen. Sie korrespondierte im politischen Bereich mit der Auseinandersetzung zwischen eher liberalen, demokratischen Strömungen auf der einen und deutschnational-völkischen Tendenzen auf der anderen Seite. Diese zeitweilige Verbindung mit einer rückwärtsgewandten, tumben Deutschtümelei belastet den Kampf um die Erhaltung der deutschen Sprache leider bis heute.
Dennoch wäre die Amerikanisierung sämtlicher Lebensbereiche einschließlich der Sprache in Deutschland kaum anders verlaufen wie in den Nachbarländern - das heißt in gemäßigterer Form - , wenn es nicht die zwölfjährige Herrschaft des Nationalsozialismus und den durch ihn entfesselten zweiten Weltkrieg gegeben hätte. Nach 1945 blieb auch vom nationalen Selbstbewußtsein der Deutschen nur ein Trümmerhaufen übrig. Noch 1961 konstatierte der liberale Publizist Paul Sethe eine eigenartige "Seelenlosigkeit" der neuen Bundesrepublik:
"Keine Propaganda, keine Erweckung alter Ressentiments, kein landschaftlicher Bezug vermag uns darüber hinwegzutäuschen, daß dies Provisorium, in dem wir leben, keine Seele hat und keine haben kann. Alle Versuche, uns ein Gefühl von der nationalen Wirklichkeit der Bundesrepublik einzureden, sind Selbsttäuschung."
Die ältere Generation, die überwiegend aus ehemaligen Mitgliedern und Mitläufern der Nazi-Partei bestand, verkleisterte ihre geistige Obdachlosigkeit fürs erste mit "christlich-abendländischer" Ideologie, die insofern an alkoholfreies Bier gemahnte, als man das berauschende braune Getränk durch ein fades Surrogat ersetzt hatte. Aber schon die nachfolgende Generation konnte mit der konservativ-klerikalen Ersatzdroge nichts anfangen. Die Söhne und Töchter reagierten sogar ausgesprochen allergisch auf die spießigen Eltern, die Jazz noch immer als "Negermusik" ablehnten, Rock and Roll für sittliche Verwilderung hielten, Mickymaus-Hefte verpönten und die USA hauptsächlich aus den Wildwest-Romanen Karl Mays kannten. Und so ließ sich nach 1945 bald eine neue Welle der Amerikanisierung beobachten, die sogar in stärkerem Maße den deutschen Wortschatz beeinflußte, als dies zuvor dem Französischen möglich gewesen war.
Gewiß spielte auch die amerikanische und britische Besatzung der Westzonen eine Rolle. Wer die Sprache der Besatzer beherrschte, war im Vorteil. Indessen wäre es voreilig, daraus bereits eine Durchdringung der deutschen Sprache ableiten zu wollen. Zunächst war es nichts weiter als das Erlernen einer Fremdsprache, wenn sich die Deutschen nun in größerer Zahl ein paar Brocken Englisch aneigneten. Der Schlager "Englisch ist gar nicht so schwer" von Fred Rauch aus dem Jahre 1949 gab dazu die passende Anleitung:
Weekend heißt Samstag,
und yes heißt jawoll,
Party heißt Gesellschaft mit much Alkohol,
Boy friend ist er, na das wissen Sie schon!
und Girl friend, das ist dann das Fräulein davon,
und Baby heißt deutsch das Malheur,
sehn's, Englisch ist gar net so schwer.
Wichtiger als die erzwungene Anpassung an das Idiom der Besatzer war die "freiwillige" Übernahme von kulturellen Elementen und damit auch Wörtern amerikanischen Ursprungs. Die amerikanische Besatzung leistete hier ihren wirksamsten Beitrag über den Soldatensender AFN, der mit seiner Musik die deutschen Jugendlichen weit eher ansprach als das konventionelle Musikprogramm der deutschen Sender.
Noch wirksamer wurde aber, wie schon in den zwanziger Jahren, die allgemeine Amerikanisierung des Geschäftslebens einschließlich der Massenmedien. Während das Bildungsbürgertum noch ziemlich hochmütig und allenfalls besorgt aus der Beletage der europäischen Hochkultur auf die Primitivität der US-Kultur herabblickte, war diese bereits ins Souterrain des Kulturbetriebs eingedrungen und kämpfte sich Stufe für Stufe nach oben.
Die scheinbare Intaktheit der etablierten Kultur erklärt auch, weshalb Theodor W. Adorno, nachdem er 1950 aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt war, "von dem geistigen Klima überrascht" war, das er hierzulande vorfand. "Die Beziehung zu geistigen Dingen, im allerweitesten Sinn verstanden" schien ihm sogar noch stärker ausgeprägt als vor der nationalsozialistischen Machtergreifung.
Adorno erlag damit einer Illusion, die vor dem Hintergrund seiner traumatischen Erfahrungen mit der US-Kultur verständlich war. Er ließ aber außer Acht, daß dem "verdinglichten Bewußtsein", wie er es zusammen mit Horkheimer in der "Dialektik der Aufklärung" gebrandmarkt hatte, allgemein gültige Gesetze der kapitalistischen Entwicklung zugrunde lagen. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis diese ökonomische Gesetzmäßigkeit auch in Europa die tradierten kulturellen Strukturen aufbrechen würde.
Als Beispiel für die Amerikanisierung der deutschen Sprache auf unterster Ebene kann der Schlager "Sugar Baby" gelten, mit dem Peter Kraus – die deutsche Kopie von Elvis Presley – 1958 sein US-Vorbild imitierte und ungemein erfolgreich war:
A One, a Two, a Three, a Four!
Sugar-Sugar-Baby, oh-oh, Sugar-Sugar-Baby,
mmmhhh, sei doch lieb zu mir,
Sugar-Sugar-Baby, oh-oh, Sugar-Sugar-Baby,
mmmhhh, dann bleib ich bei dir.
Ich kenn Susi und Marleen,
kenn die Mary und die Jane,
auch Diana ist bezaubernd und nett,
und das eine ist mir klar,
ich wär dauernd in Gefahr,
wenn ich dich nicht hätt', Sugar-Baby!
Hey, Sugar-Sugar-Baby...
Die Susi mochte noch als deutscher Mädchenname durchgehen. Marleen, Mary, Jane und Diana waren aber eindeutig englische bzw. amerikanische Namen, was schon einigermaßen wundernimmt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Freundinnen eines deutschen Jugendlichen damals noch immer Helga, Monika, Marliese oder Renate hießen. Von dem Kosenamen "Sugar Baby" ganz zu schweigen, der erst durch diesen Schlager bekannt wurde. Mangels englischer Sprachkenntnisse dürfte ihn ein großer Teil des Publikums auch dann nicht richtig verstanden haben. Aber das tat nichts zur Sache. Es ging hier um etwas anderes: Die Demonstration eines Lebensgefühls, das den american way of life als erstrebenswerte, ja höhere Form der Existenz empfand.
Ich entsinne mich, wie wir damals als Schüler begeistert diesen Schlager auf Klassenfahrten gesungen haben – und an das zorngerötete Gesicht des Schulleiters, der verlangte, wir sollten mit diesem Schund aufhören und stattdessen anständige deutsche Volkslieder wie "Hoch auf dem gelben Wagen" anstimmen.
Es war derselbe Schulleiter, der mich ohrfeigte, als ich mich erkühnte, meinen Austritt aus dem Religionsunterricht zu erklären. "Was mir und anderen heilig ist, lasse ich mir von Dir nicht in den Schmutz ziehen", schrie er dazu.
So war sie, die Adenauer-Ära, mit ihrem klerikalen Mief, ihrer Spießigkeit und dem ganzen braunen Dreck, der nur notdürftig unter den Teppich gekehrt worden war. Billige Pop-Songs wie Sugar Baby klangen da wie die Verheißung einer neuen Ungezwungenheit und Weltoffenheit.
Ein paar Jahre später ließen wir uns dann nicht mehr ohrfeigen. Es war nun vielmehr das Establishment, das Tätlichkeiten zu befürchten hatte. Zum Beispiel den Sturm auf das Berliner Hochhaus des Springer-Konzerns, dessen "Bild-Zeitung" mit ihrer Hetze den Mordanschlag auf Rudi Dutschke provoziert hatte. Ich war in dieser Nacht dabei, ohne mich an den Tätlichkeiten zu beteiligen. Indessen verfolgte ich mit mehr als klammheimlicher Sympathie, wie die Zeitungswagen von "Bild", "BZ" und "Morgenpost" in Flammen aufgingen...
Wie das damals vielstrapazierte Wort Establishment bereits andeutet, war die "außerparlamentarische Opposition" (APO) weit entfernt davon, Allergien gegen Anglizismen zu entwickeln. Man übte sich vielmehr in Teach-ins und Go-ins. Beiläufig wurde es nun auch üblich, vom Universitätsgelände als Campus zu sprechen. Die endlosen Theoriedebatten waren gespickt mit Soziologen- und Politologen-Vokabular, das rebellische Studenten und ihre akademischen Lehrer aus der US-Fachliteratur übernommen hatten. In der Zerfallsphase der APO war viel von Flower-power die Rede.
Ein bißchen anrüchig wirkten für uns allerdings ausgerechnet die Begriffe freedom und democracy, da sie von der US-Propaganda bemüht wurden, um die Vergiftung und Zerstörung Vietnams zu rechtfertigen. Man gebrauchte sie eigentlich nur, um die Phraseologie der "Massenmörder" Nixon und Johnson zu parodieren. Wer nicht die Verfälschung meinte, sondern das Echte, sprach auf gut deutsch von "Freiheit" und "Demokratie".