"Neuerdings spricht man wieder von Patriotismus. Sind wir nicht auch Patrioten, wenn wir uns um das Schicksal der deutschen Sprache kümmern? Wäre das nicht auch ein Diskussionsansatz? Sollte man sich nicht im Verein Gedanken machen, wie wir diesen Patriotismustrend nutzen können?"
So fragte neulich ein VDS-Mitglied. Ich teile diesen Patriotismus-Ansatz nicht, halte die Frage aber für den geeigneten Anlaß, um eine gewisse Unterschiedlichkeit der Motive zu verdeutlichen, aus denen sich "Denglisch"-Gegner im VDS zusammengefunden haben.
Das Konversationslexikon übersetzt Patriotismus mit "Vaterlandsliebe" und definiert ihn als "die im staatsbürgerlichen Ethos wurzelnde, zugleich gefühlsbetonte, oft leidenschaftlich gesteigerte Hingabe an das überpersönliche staatliche Ganze". Nicht nur in Deutschland, aber auch und besonders hier, hat diese gesteigerte Hingabe an das überpersönliche staatliche Ganze eine verhängnisvolle Tradition. Nähere Ausführungen dazu erübrigen sich für jeden, der ein bißchen Kenntnis von Geschichte hat.
Schon für Heinrich Heine bestand der Patriotismus des Deutschen darin, "daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will". Heine schrieb dies Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, in seinen Erläuterungen zur "Romantischen Schule" in Deutschland. Er wandte sich damit gegen den "Turnvater" Jahn und ähnliche Deutschtümler. Ursprünglich war der Text in französischer Sprache abgefaßt und zielte auf französische Leser. Es verwundert deshalb nicht, daß diese ihren eigenen Patriotismus in den schönsten Farben geschildert fanden: "Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation mit seiner Liebe umfaßt."
Das war wohl nach beiden Seiten hin übertrieben, hatte aber einen realen Hintergrund: Tatsächlich wird in Deutschland die Zugehörigkeit zur "Nation" seit jeher blutsmäßig definiert, während für den Franzosen die Zugehörigkeit zur Sprachgemeinschaft das wichtigste Kriterium ist. In Frankreich kann jeder, unbeschadet seiner Hautfarbe und sonstigen Herkunft, zum Franzosen werden, sofern er die Sprache des Landes und die Grundregeln der "Zivilisation" beherrscht (ein Wort, das der Deutsche eher mit asphaltierten Straßen oder Wasserspülung verbindet, während es im Französischen ungefähr unserem Begriff "Kultur" entspricht). Dagegen kommt es in Deutschland primär auf die Abstammung an. Nicht nur der Nationalsozialismus hat dieser Sichtweise gehuldigt. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat viel Geld und Mühe aufgewendet, um die Nachfahren irgendwelcher Auswanderer, die ihre Heimat im 18. oder 19. Jahrhundert verlassen hatten, "heim ins Reich" zu holen. Sie leben jetzt zum großen Teil in Ghettos und bilden eine problematische Minderheit, weil es nicht gelingt, sie in die deutsche Sprachgemeinschaft und Kultur zu integrieren.
Die gegenwärtige Patriotismus-Debatte wurde von Politikern angestoßen. Den Hintergrund bildet dabei das Einwanderungsproblem bzw. die mangelnde Integration von Einwanderern in die deutsche "Leitkultur" (auch so ein problematisches Wort). Man will den Teufel der Multikulti-Ideologie, deren Bocksfüßigkeit sich nicht länger verbergen läßt, mit dem Beelzebub des Patriotismus austreiben. Es geht dabei aber gar nicht um die Sache selbst - auch nicht um das, was man als gesunden Patriotismus bezeichnen könnte -, sondern um Wählerstimmen. Es handelt sich um ein Kuckucksei der Politik. Denn die Politik ist nun mal nicht die Sphäre, in der ernsthafte Diskussionen über kulturelle oder gesellschaftliche Probleme stattfinden. Sie ist vielmehr jene Sphäre, die solche Diskussionen vereinnahmt und instrumentalisiert, zur Not auch erfindet und als Medienereignis inszeniert. So entstehen dann Strohfeuer, die zwar nicht lange anhalten, an denen man sich aber dennoch die Finger verbrennen kann...
Wenn in solchen Zusammenhängen von Patriotismus die Rede ist, würde ich es mit Bundespräsident Gustav Heinemann halten , der auf die Frage, ob er die Bundesrepublik Deutschland liebe, geantwortet hat: "Ich liebe meine Frau." Zugegeben: Auch Heinemann war ein Politiker. Für manche Ohren mag seine Antwort privatistisch oder sogar zynisch klingen. Es sei deshalb daran erinnert, daß Heinemann in den fünfziger Jahren die "Gesamtdeutsche Volkspartei" mitbegründet hat. Er war einer der wenigen Politiker, die sich Adenauers Kurs der Westintegration widersetzten, weil ihm als "Patriot" klar war, daß dadurch die Spaltung Deutschlands auf Jahrzehnte zementiert werden würde.
Aber das ist Schnee vom vorvergangenen Jahr. Der Begriff Patriotismus wirkt heute in seiner alten, nationalstaatlichen Bedeutung immer obsoleter. Er trägt paradoxe, sogar skurrile Züge. Man denke nur daran, wie bis ins 20. Jahrhundert wirtschaftliche Interessen patriotisch kostümiert wurden (nach dem Motto: Was gut für Krupp, AEG, Siemens oder die Deutsche Bank ist, ist auch gut für Deutschland). Oder wie Demokraten jeglicher Couleur als "vaterlandslose Gesellen" stigmatisiert werden konnten. Heute sind die vaterlandslosen Gesellen die Großkonzerne, die ihre Gewinne auf den Bermudas versteuern, während sie im Stammland über massiven Stellenabbau die Sozialversicherung ruinieren und mit der Verlagerung der verbliebenen Arbeitsplätze ins Ausland drohen, wenn die Politik sie dennoch in die Pflicht zu nehmen gedenkt. Und der Chef der Deutschen Bank ist ein Ausländer, der den Sitz des Instituts schon morgen nach London oder an einen anderen Ort der Welt verlegt, wenn es ihm opportun erscheint.
Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch hat der deutsche Patriotismus alter Prägung den Boden unter den Füßen verloren. Faktisch haben wir heute im europäischen Rahmen ähnliche Verhältnisse wie im Deutschland des 19. Jahrhunderts vor der Reichsgründung. Wer auf dem alten nationalstaatlichen Patriotismus beharrt, hat noch nicht gemerkt, daß wir inzwischen mehr von Brüssel als von Berlin aus regiert werden. Die Vereinigten Staaten von Europa sind keine Utopie mehr, sondern absehbare Konsequenz der bisherigen Entwicklung. Deutschland ist innerhalb dieser neuen politischen Ordnung eines von 25 Mitgliedsländern. Wahrscheinlich werden es noch mehr werden. Der deutsche Patriot alten Schlages wirkt da so anachronistisch wie der Bayer, der noch immer dem "Kini" nachtrauert oder den Haß gegen die "Saupreußen" pflegt.
Unter den neuen Umständen muß die Frage lauten, wie es die Nationen innerhalb dieses buntgescheckten Europas schaffen, sich ihre Identität zu bewahren und das, was sie notwendigerweise aufgeben müssen, in eine neue europäische Identität einzubringen, statt in einem angloamerikanisch gefärbten Multikulti-Brei zu versinken. Denn die englische Sprache hat einen enormen Vorteil dadurch, daß sie - nicht ganz so schön wie in England, aber doch ganz ähnlich - auch in den USA gesprochen wird. Die politisch-wirtschaftliche Dominanz der USA hat spätestens seit dem zweitem Weltkrieg zur kulturellen Kolonisierung Europas geführt. Insofern ist es eigentlich gar nicht "Englisch" oder "Denglisch", was im Übermaß in die deutsche Sprache eindringt, sondern Amerikanisch bzw. Damerikanisch.
Die Überflutung mit Englisch hat zum Teil sachliche Gründe. Man braucht nur an den Computer-Bereich zu denken, wo so gut wie alle Begriffe englisch sind, weil die weltweite Verbreitung der Technik und Software von den USA ausging (daß der Computer eigentlich in Deutschland erfunden wurde, hilft da wenig). Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, alle diese Begriffe eindeutschen zu wollen. Man sollte aber zumindest dort, wo die Fachsprache in die Allgemeinsprache übergeht, nach deutschsprachigen Alternativen suchen (z.B. "Leitseite" statt "Homepage"). Und wenn es noch keine gibt, sollte man durchaus auch Neuschöpfungen wagen, wie dies die Franzosen mit "logiciel" für "software" getan haben.
Die eigentliche Kolonisierung findet indessen dort statt, wo ohne Not deutsche Wörter durch englische ersetzt werden, weil sie irgendwie modischer, schicker, imposanter klingen; wenn zum Beispiel aus dem Fahrrad ein "Bike" und aus dem Radfahrer ein "Biker" wird; oder wenn schlecht übersetztes Englisch wie "es macht Sinn" oder "in 2005" derart ins Deutsche eindringt, daß es schon keinem mehr auffällt. Es gilt auch schon als normal, wenn ein Geburtstagskind mit "Happy birthday to you" begrüßt oder am 31. Oktober "Halloween" gefeiert wird. Die Vermittlung solcher Sprach- und Denkmuster kommt über die Medien zustande, vor allem über das Kommerz-Fernsehen, das seine Trash-Programme (in diesem Fall paßt der Anglizismus) größtenteils mit Produkten aus den USA bestreitet. Es kam schon vor, daß solche unbedarften Fernsehgucker, wenn sie vor Gericht als Zeugen auftreten mußten, den Richter hartnäckig mit "Euer Ehren" anredeten...
Die deutsche Sprache erleidet so eine schleichende Pidginisierung. Es ergeht ihr ganz ähnlich wie Dialekten, die den Kontakt zur Hochsprache verlieren. Wohin das führt, kann man im Elsaß studieren, wo ein Teil der Bevölkerung noch im alemannischen Dialekt verwurzelt ist, diesen aber nur noch rudimentär verwenden kann, weil dem "Alsacien" die Verbindung zur Hochsprache abgerissen ist. Der Dialektsprecher muß deshalb ins Französische wechseln, sobald es um kompliziertere Dinge und Sachverhalte geht. (Unseren Germanisten ergeht es übrigens schon ganz ähnlich, denn sie bezeichnen den hier geschilderten Vorgang als "Code-Switching".)
Das erstaunlich vitale Gegenstück zum "Alsacien" ist der alemannische Dialekt der Deutschschweizer. Er befindet sich innerhalb der Schweiz keineswegs auf dem Rückzug, sondern im Vormarsch. Er gilt dort auch nicht als Unterschichten-Merkmal, sondern als Ausweis gehobener Bürgerlichkeit. Im Gemeinschaftsprogramm des deutschsprachigen Fernsehens auf "3 Sat" werden deshalb Beiträge aus der Schweiz oft mit Untertiteln versehen, denn Schwyzerdütsch klingt für die Ohren von Norddeutschen nun mal fast wie eine Fremdsprache. In Schriftform wäre das Gesagte jedoch - von kleineren Eigenheiten abgesehen - identisch mit der deutschen Hochsprache. Die Verbindung ist hier also durchaus vorhanden, wie auch jeder weiß, der die "Neue Zürcher Zeitung" aufschlägt oder einen Text von Max Frisch liest.
Ein vielleicht noch besseres Beispiel für die Notwendigkeit sprachlicher Selbstbehauptung sind die baltischen Staaten, die man aus westeuropäischer Sicht längst als russische Provinzen abgeschrieben hatte, bevor sie sich beim Zusammenbruch der Sowjetunion wie Phönix aus der Asche zu neuer Staatlichkeit aufschwangen. Dabei sind die Esten, Letten und Litauer lediglich Mini-Nationen, die weniger Staatsbürger zählen als die meisten unserer Bundesländer. Daß sie der massiven Russifizierung dennoch widerstehen konnten, verdanken sie vor allem der Bewahrung ihrer eigenen Sprachen.
Deutschland als wichtigstes Land der EU hätte somit eigentlich ganz gute Chancen, der Amerikanisierung zu widerstehen. Sie wurden aber bisher vertan, indem deutsche Politiker, Geschäftsleute und Wissenschaftler einen besonderen Ehrgeiz entwickelten, bei allen möglichen Gelegenheiten englisch statt deutsch zu reden. Man braucht nur die Verlautbarungen der EU-Kommission in Brüssel durchzusehen, um schnell festzustellen, daß Deutsch neben Englisch und Französisch von nachrangiger Bedeutung ist. Warum muß ich wochenlang warten, bis ich im Internet ein Dokument des Rats, der Kommission oder des Parlaments auch in deutscher Fassung vorfinde?
So etwas ärgert mich nicht als Patriot, sondern schlicht als Angehöriger der deutschen Sprachgemeinschaft (die auch noch die Österreicher, den größten Teil der Schweiz und etliche andere Menschen außerhalb der Grenzen Deutschlands umfaßt). Man ist nun mal in dieser Sprache aufgewachsen und wird beim besten Willen andere Sprachen nie in derselben Weise beherrschen. Es ist nicht Patriotismus, sondern purer Selbsterhaltungstrieb, wenn ich die mir vertraute kulturell-geistige Infrastruktur nicht von Ignoranten zerstört sehen möchte, die zwar einflußreiche Positionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Werbung erklommen haben mögen, aber sonst doch ziemliche Banausen sind und von der Bedeutung der Sprache soviel Ahnung haben wie eine Kuh vom Klavierspielen. Wieviel Ignoranz es in dieser Hinsicht gibt - auch und gerade bei Institutionen, die sich speziell mit der deutschen Sprache befassen - hat eben erst die sogenannte Rechtschreibreform gezeigt. Meinetwegen kann man diesen Selbsterhaltungstrieb - kollektiv betrachtet - auch als Patriotismus bezeichnen. Mit dem Patriotismus alter Art hat er aber nicht viel zu tun.